14 November 2005

Über den Dächern von New York. Schlaglichter amerikanischer Lebenswelten.


Einen Moment lang könnte man meinen, nun sei es endlich ruhig. Eben noch stachen hunderte Feuerwerkskörper in die Lüfte, malten ein pittoreskes Bild in den kühlen, dunstigen Himmel und erhellten nicht nur die Hudson-Mündung, sondern die ganze Insel Manhattan. Krönender Abschluss jeder Luxuskreuzfahrt. Aber dann vernimmt man sie wieder, die eben noch vom Thalamus weggefilterte Geräuschkulisse New Yorks, einer Stadt, die nicht zur Ruhe kommen will. Ich beginne zu tippen.

Überstürzt kam ich im August hier an, gestresst. Es war dann doch mehr zu bedenken und zu regeln vor meiner Abreise, als ich geplant hatte. Das mir immanente Last-minute-Gen hatte einmal mehr zugeschlagen. Genau 100 Grad Fahrenheit maß das Thermometer in der Ankunftshalle des JFK, ein hässlicher Bau übrigens, in die ich mich nach zweistündiger Visa- und Zollkontrolle durchschlagen konnte. Ebenso lange benötigte das Taxi nach Downtown ins in die Jahre gekommene Studentenheim am Campus, wo ich aufgrund meiner angespannten Finanzlage lebe. Kein Gehupe, keine einschlägigen Gesten, alle ertragen den Stau mit Geduld. Auch auf halbleeren fünfspurigen Etappen fährt er brav seine 40 Meilen pro Stunde, der Pakistani am Steuer. Am Fahrstreifen neben uns ein monströser Van mit einem ebenso übergewichtigen Mann am Steuer, mit Frohlocken seinen Lunch einnehmend. Er trägt eine Kippa, demnach wird der Snack wohl koscher sein. Zehn Prozent Trinkgeld seien angemessen, wurde mir geraten; heute weiß ich, dass es 15 sein sollten.

Mit dem phänomenalen Blick hinüber nach New Jersey habe ich es gut erwischt. Vom 19. Stock aus behält man den Überblick. Was erst am Abend auffällt, sind die fehlenden Deckenlampen. Aber auch in hiesigen Luxusapartments sind sie regelmäßig nicht zu finden, wer weiß warum. Ausgestattet mit einer europäischen Kreditkarte transformiere ich einen sterilen Raum in eine angenehme Heimstatt für ein ganzes Studienjahr, Kartons in der Hitze durch überbordend volle, monotone Straßenzüge schleppend. Wo kommen all die Menschen her? Der Jamaikaner an der Ecke beispielsweise, den ich um den Weg frage? Oder der Junge, der im Supermarkt die Tüten packt? Ich, frech wie immer, spreche ihn an, er staunt, sieht die Kassiererin deutend an, die springt in die Presche und meint in holprigem Englisch, der mexikanische Akzent verleiht ihr zusätzliche Authentizität, dass er kein Englisch spreche. Und auch kein Spanisch. Sie wisse nur, dass er aus Bangladesh stamme und seit etwa vier Monaten in den Staaten sei. Trotzdem hat er Arbeit, ca. dreizehn Stunden täglich, offensichtlich legal. Viel später finde ich heraus, dass nicht versichert ist, wie die Kassiererin. Den bescheidenen Lohn bekommt sie bar auf die Hand gegen Unterschrift, davon etwas an einen „insurance shark“ abführen? Daran denke sie nicht. Ihr Baby benötige Nahrung. Täglich pendelt sie eine Stunde aus der Bronx ein. Vielleicht besuche ich sie einmal.

Wohlgebildete Maturanten verbinden New York mit den Sätzen am Sockel der Freiheitsstatue: „Give me your tired, your poor, / Your huddled masses yearning to breathe free, / The wretched refuse of your teeming shore. / Send these, the homeless, tempest-tost to me, / I lift my lamp beside the golden door!” Die zum Zweck diese Reportage auf besagte Lyrik Angesprochenen bekommen glasige Augen und erzählen wie ein Wasserfall. Der eine ist José, er verkauft das Dutzend Rosen für zehn Dollar. Sein zweites Kind ist im vorletzten Winter neunjährig an Grippe gestorben, da kein Geld für Medikamente da war. Trotzdem möchte er nicht weg aus den USA, denn dieses Land sei besser als die mexikanischen Maquiladoras und gebe ihm „a future, and work, and perhaps we will have our own house.“ Bis dahin ist es noch ein weiter Weg für ihn und die anderen 27 % New Yorker, die beim letzten Zensus die Rubrik „Latino“ angekreuzt haben.
Der andere ist Associate einer Big-Four-Kanzlei, arbeitet im Tax Department, und will seinen Namen nicht genannt wissen. Ich fange ihn zufällig an der Ecke Lexington Avenue und 53th Street ab, unmittelbar vor der Zentrale der Citigroup, die ihren Aktionären im letzten Jahr 17 % Eigenkapitalrendite beschert hat. Langsam fädle ich ein Gespräch ein, gebe mich als Journalist aus, es beginnt zu regnen, mein Schirm erscheint auch ihm hilfreich. Ohne zu zögern legt er sein Gehalt offen, 280.000 Dollar pro Jahr vor Steuern. Er ist weiß, Mitte dreißig, irischer Immigrant in vierter Generation – worauf er Wert legt – und liebt sein Land. Warum? „Because I can afford everything I want, I’m a dinky.“ Dinky klingt wie Straßenköter, bedeutet aber “double income, no kids.” Gemeinsam mit seiner partner-in-time, zu Neudeutsch Lebensabschnittspartnerin, verdiene er eine halbe Million pro Jahr und wisse gar nicht, wie er das Geld ausgeben solle. Es sei gut angelegt und wachse in den Himmel, meint er. Das entlockt mir ein Schmunzeln. Sie leben in Manhattan, im 44. Stock mit Blick auf den Central Park. Seine Brüder und Cousins arbeiten großteils ebenfalls in Manhattan als Anwälte, Investmentbanker und Polizisten. Für sie hat sich das Versprechen der Freiheitsstatue materialisiert, im wahrsten Sinne des Wortes.

Wir treffen uns eine Woche später in seinem Lieblingslokal O’Flanagan’s, 2nd Avenue, um halb zwölf Uhr abends. So lange hat er nämlich zu arbeiten, meist fünfeinhalb Tage pro Woche, oft aber auch mehr. In Manhattan rechnet man in „billable hours“, verrechenbaren Stunden; nur für jene Stunden, die dem Klienten in Rechnung gestellt werden können, wird er auch bezahlt. Wie viele denn so erwartet werden? 2.600 pro Jahr ist das „production target.“ Aha, geht sich das überhaupt? Naja, meint er, Urlaub nehme er fast nicht, das werde nicht gerne gesehen. Und wenn das Business gerade besonders big ist, dann werde auch sonntags geschuftet. Politisch sieht er sich als einen „Liberal“; klar, dass er die New York Times abonniert und John Kerry gewählt hat Was ihn an Amerika am meisten störe? Die Bürokratie, die extremen Steuern und die hohen Ausgaben für Faule und Taugenichtse. Hört, hört, starke Worte, passt das nicht eher zu den Republikanern? Sie haben doch das Menschenbild des homo oeconomicus vor Augen und verteufeln Sozialtransfers. Das Fazit des restlichen Gesprächs: Wir haben es hier mit einem klassischen Vertreter der in Manhattan vorherrschenden Gattung „better off“ zu tun, einem Prachtexemplar sogar; vornehmlich weiß, hoch gebildet, hart arbeitend und mit seinem Leben doch einigermaßen unzufrieden, den Zwängen der Leistungsgesellschaft wehrlos ausgeliefert. Außenpolitisch ist er eine „dove“, sieht Freihandel und Marktöffnung relativ positiv und schätzt französische Weine. Religion spielt in seinem Leben eine vergleichsweise nachrangige Rolle, außer er ist jüdischer Abstammung. Sehr viel Wert legt er auf Bürgerrechte und „political correctness“ im Allgemeinen, soll heißen ein freundlicher Augenaufschlag am Arbeitsplatz kann schon mal einen legitimen Klagsgrund wegen sexueller Belästigung darstellen. Charakteristisch ist der Drang, seiner liberalen Ader durch eine Stimme für die Demokraten bei den städtischen Legislativwahlen Ausdruck zu verleihen. Nicht hingegen bei den Wahlen zum viel einflussreicheren Amt des Bürgermeisters, da zählen Prinzipien wie „leadership, small government, and law and order.“ Das soziale Gespür ist nur oberflächlich ausgeprägt, wird mit ein paar Spendendollars jährlich hochgehalten, soll aber außer diesem Erlagscheinhumanismus möglichst wenig mit dem Ich-bezogenen Meistbegünstigungsprinzip konfligieren.

Eine wenig erschreckende – weil schlicht und einfach unvermeidliche – Erkenntnis nach drei Monaten im Brennpunkt US-amerikanischer Urbanität stellt die Bestätigung zahlreicher Vorurteile dar. Klischees werden in Manhattan (fast schon enthusiastisch) gelebt. Wir haben gesehen, dass die Stadt vor dem Hintergrund einer von den Begriffen Chance und Performance geprägten Lebenseinstellung einen überraschend klar umreißbaren Menschenschlag anlockt bzw. produziert. Die hoffnungsvollen Verheißungen des American Dream setzen auf Toleranz, Dynamik, Risikobereitschaft und Leidensfähigkeit. Die Belohnungen für kreative, erfolgreiche Zeitgenossen sind nach oben hin fast unbeschränkt. Bedenkliche Fragezeichen hinterlassen hingegen die Themenkomplexe großstädtische Anonymität, gesundheitliche Grundversorgung und soziale Mobilität. Soziologen liefern je nach politischer Färbung unterschiedliche Ergebnisse, die schwer vergleichbar sind. Trotz eines sehr ausgeprägten Sensoriums für politische und sozioökonomische fällt es schwer, mir darüber ein Urteil zu bilden.
Meine vorläufige Einschätzung aus dem Bauch heraus: 1) Reich und Arm leben in New York verblüffend friedlich Tür an Tür. Neid ist offensichtlich kein Thema, vielmehr wirkt Leistung motivierend auf das Umfeld des Tüchtigen. 2) Auch kleine Erfolge werden hier sichtbar belohnt. Das verleiht dem Ideal des sozialen Aufsteigers an Plastizität. Manchmal erinnert es aber an k.u.k. Tradition (Orden, Urkunden, Titel, Preise). 3) Ein guter Teil der niedrigen Lebensqualität – im europäischen Sinne verstanden – breiter Teile der Gesellschaft ist der ausgeprägten Konsummentalität zuzuschreiben. Wozu büffeln, wenn man Spaß auch ohne High-School-Abschluss haben kann? 47 % der Schüler in New Yorks öffentlichen Schulen brechen vorzeitig ab. Wozu sich vernünftig ernähren, wenn Fast Food nicht nur einfacher, sondern auch billiger zu haben ist? 61 % der erwachsenen Amerikaner sind nach WHO-Standards übergewichtig (BMI > 25). Wozu sich politisch informieren und engagieren, wenn Entertainment viel unterhaltsamer ist? Der Durchschnittsamerikaner verbringt täglich neun Stunden mit Unterhaltung (TV, Computer, etc.), die Wahlbeteiligung liegt konstant unter 35 %. Zahlen, über die man nachdenken sollte.

12 November 2005

Widerruf

Ich habe in diesem Blog am 20. Oktober 2005 unter der Überschrift "Sich bestätigende Klischees" die Behauptung aufgestellt, US-Amerikanern sei der globale Klimawandel egal. Hiermit widerrufe ich diese Aussage als falsch. Ich entschuldige mich dafür, Sie bzw. Dich, meine geschätzen Leserinnen und Leser, inkorrekt informiert zu haben.

Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Amerikaner sind höchst besorgt über das Ozonloch, den anthropogenen Treibhauseffekt, die seit Jahren beobachtbare Erwärmung der Atmosphäre über jede statistisch erklärbare Varianz hinaus und als Konsequenz den Rückgang der Diversität von Fauna und Flora in allen Klimazonen.

Wir Europäer halten doch nur an längst überkommenen Stereotypen fest, glauben, die Bürger zwischen New York und Los Angeles würden sich einen Dreck scheren um die Zukunft des Ökosystems Erde, würden auf Kosten künftiger Generationen unbedacht nicht erneuerbare Ressourcen vergeuden und den Rest der Welt noch auslachen ob seiner wettbewerbsschädlichen Klimaschutzbemühungen. Doch all das ist - wie schon gesagt - grundwegs falsch. In den letzten Wochen hat sich in Amerika eine tiefgreifende Sensibilität für die Anliegen der Natur entwickelt. Gerade noch hat die Hauspostille des Establishments - das wirtschaftsliberale Wall Street Journal - feurige Plädoyers für benzinfressende Automobile gehalten, weil sie angeblich nicht nur Ausdruck der amerikanischen Individualität sind sondern vor allem den Wirtschaftsmotor brummen lassen. Darüber hinaus wäre die Flucht vieler zehntausender armer Menschen aus Lousiana nicht möglich gewesen, hätten nicht gutherzige Fahrer am Lenkrad tonnenschwerer geländegängiger SUVs zu ihrer Rettung beigetragen. Der Autor - Herausgeber des einflussreichen Blattes! - schreibt weiter: "Welcome to the modern-day Luddite movement, which once raged against the machine, but now targets the automobile. Just last month, environmentalists organized a "world car-free day," celebrated in more than 40 cities in the U.S. and Europe. In the left's vision of utopia, cars have been banished -- replaced by bicycles and mass transit systems. There is no smog or road congestion. And America has been liberated from those sociopathic, gas-guzzling, greenhouse-gas-emitting SUVs and Hummers that Jesus would never drive." Und zum Thema Energiesparen meint er pointiert: "[T]here is now a nearly maniacal obsession among policy makers and the Greens to conserve energy rather than to produce it. Even many of the oil companies are running ad campaigns on the virtues of using less energy (do the shareholders know about this?) - which would be like McDonald's advising Americans to eat fewer hamburgers because a cow is a terrible thing to lose. A perverse logic has taken hold among the intelligentsia that progress can be measured by how much of the earth's fuels we save ..." Seine Conclusio beweist uns seine Gelehrtheit und darüber hinaus profundes Verständnis südosteuropäischer Nachkriegsgeschichte: "Studies confirm that the more, not less, energy a nation uses and the more, not fewer, cars that it has, the more productive the workers, the richer the society, and the healthier the citizens as measured by life expectancy. When Albania abolished cars, it quickly became one of the very poorest nations in Europe."

Diese Zeiten des unverantworlichen Umgangs mit den Schätzen der Natur sind ein für alle Mal vorbei. Amerika ist ökosensibel geworden. Der Beweis ist der Aufmacher des Wall Street Journal vom 29./30. Oktober, der sich im Detail mit gefährdenten Ökosystemen auseinandersetzt. Zielgruppengerecht titelt man mit dem "Global Climate-Change Island Guide", der wohl den betuchteren vier, fünf Promille der Weltbevölkerung als Ratgeber dienen soll. Mit akribischer Genauigkeit werden die Für und Wider einer Investition in karibische, pazifische oder indische Inseln gegeneinander abgewogen. Erhöhte Hurrican-Häufigkeit aufgrund wärmerer Meeresströmungen? Aufgrund des Artensterbens ausgebleichte und damit ästhetisch entwertete Korallenriffe? Steigender Meeresspiegel? All diese Faktoren sollte der klimasensible Amerikaner beachten, will er seine Millionen nicht in riskante Wertanlagen stecken. Ob eine kleine tropische Parzelle mit Privatflugplatz oder gleich eine Insel für sich allein - für jede amerikanische Geldbörse wird etwas geboten. Ganz oben auf der Liste der begehrten Plätze steht die nordatlantische Prince Edwards Insel. Dort ist es so kalt, dass die schon jetzt deutlich messbare Erderwärmung einen willkommener Gruß der Zukunft darstellt. Auch auf lange Sicht bleibt es kühl genug, um Wirbelstürme mit einiger Wahrscheinlichkeit ausschließen zu können. Ehemalige Luxusdestinationen wie die Florida Keys rangieren weiter unten, wurden sie doch von Rita und Wilma arg gebeutelt. Kritisch könnte es für die Bermudas werden, die nicht mehr darauf vertrauen können, dass sie der Golfstrom bis in alle Ewigkeit warm hält. Abzuraten ist dem umweltbewussten Amerikaner von den Malediven, denen das Wasser schon jetzt sprichwörtlich bis zum Hals steht. Und natürlich sollte man nach Möglichkeit auch die indonesische Oase Sulawesi meiden, glauben provinzielle Politiker doch, mit einer Tauchersteuer die devisenbringenden amerikanischen Gönner verärgern zu dürfen.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass sich Amerika damit unzweifelhaft als umweltbewusst ausgewiesen hat. Hurra!