19 October 2005

Sich bestätigende Klischees


Man kann es nicht oft genug sagen: Ich bin hier in der größten Betonwüste der Welt gelandet, wo die Neonsonne nie untergeht. Knapp 30% der Bewohner sprechen überhaupt (!) kein Englisch, sagt der Zensus, 35% leben unter der Armutsgrenze und Obst und Gemüse kosten im Schnitt 90% mehr als in Mitteleuropa - sind aber kaum jemals organisch-biologisch produziert worden, wahrscheinlich haben sie echte Erde nur im Vorbeifahren gesehen. Warum also Manhattan?

Weil die Stadt unter Strom steht und ich mit ihr. Weil ich an einer Uni, von der man sagt, sie sei exzellent, gemeinsam mit Studenten, die das von sich ganz und gar nicht glauben, in Kursen sitze, die dieses Prädikat wirklich verdienen. Es ist schlichtweg genial an der NYU. Mehr als Hälfte meiner Professoren kommt aus dem Ausland, die Atmosphäre ist dementsprechend multikulturell geprägt. In Europa soll angeblich nür das Collège d'Europe dieses Flair versprühen. Die von mir gewählten Lehrveranstaltungen erfordern einen gehörigen Lernaufwand, viel mehr als in Graz und Paris zusammen. Denn die Stimmung im Hörsaal lebt von der guten Vorbereitung auf jeden einzelnen Unterrichtsblock (pro Fach meist zwei pro Woche) - hier wird problemorientiert aufgerissen, was man im Reader theoretisch und anhand von höchstrichterlichen Entscheidungen erarbeitet hat. Faszinierend ist, dass man erst gar nicht versucht, die "eine" juristische Wahrheit zu finden (ein typisch kontinentaleuropäischer und asiatischer Zugang), sondern stets von der Existenz mehrerer mehr oder weniger überzeugend argumentierbarer Wege ausgeht, zwischen denen sich das Gericht dann entscheiden kann.
Aber was heißt da Gericht, Gericht, das klingt so puristisch juristisch, meine Fächer hingegen sind eher in internationalen Sphären angesiedelt, wo Verfahren vor Gerichten selten und oft ineffektiv sind. Mein Programm heißt Trade Regulation: Focus International Trade, wobei Trade im umfassenden angelsächsischen Sinn (ergo: Wirtschaft treiben) verstanden werden muss. Ich mache sechs Punkte internationales und europäisches Handelsrecht (WTO, Binnenmarkt etc.), drei Punkte internationales Finanz- und Investitionsrecht, sechs Punkte amerikanisches und internationales Immaterialgüterrecht, drei Punkte internationale Prozessführung. Neben diesem Kernprogramm belege ich als Komplementärfächer Business Crime, Comparative Corporate Law und Corporate Finance. Übrigens: Wir sind nur knapp ein Dutzend Studenten in dem Programm (von insgesamt etwa 420). Die meisten anderen spezialisieren sich in Corporations oder International Tax. Mir ist das aber zu trocken. Außerdem möchte ich mir die Optionen Wissenschaft und Politikberatung offenhalten, und da kann ich als breit aufgestellter internationaler Wirtschaftsrechtler sicher mehr einbringen denn als reiner Gesellschaftsrechtler.

Meine Unterkunft ist wesentlich komfortabler als in Paris. Ich blicke von meinem Zimmer im 19. Stock des Studentenheims - es liegt genau acht Gehminuten von den Gebäuden der Rechtsfakultät entfernt - über den Hudson-River nach New Jersey. Und jetzt kommt das Beste: Ich verfüge über einen Gasherd, kann also nach Lust und Laune kochen, bzw. könnte, denn über allzu viel Zeit verfüge ich ob der intensiven Vorbereitung auf den Unterricht nicht. Das Leben des New Yorkers ist ein anonymes. Das färbt in gewisser Weise auch auf den Studenten ab, wohl aber nur auf den Amerikaner. Er ist Einzelkämpfer und - so hört man - beziehungsunfähig, auch was Freundschaften anlangt. Obzwar ich zu einigen US-Kollegen intensivere Bande geknüpft habe, bleiben Gespräche (zu) oft auf rein technischer Ebene stecken. Wenn man sie auf diese Defizite offen anspricht, wird das mitunter als Lifestylefrage abgetan. Entweder man wolle Geld verdienen, oder eben nicht. Da stelle man nicht solche Fragen. Auch in anderen Belangen scheinen sie nicht zum Darüber-hinaus-Denken motiviert zu sein. Auf die staunende Frage, warum bei einer zweistündigen Diskussion über den Hurrican Katrina und seine Gründe nie das Wort "Klimawandel" gefallen war, bekam ich die lapidare Anwort: "Americans don't believe in global warming." Basta, das war's, ein weiteres Eingehen auf solche hintergründigeren Fragestellungen erscheint nicht angezeigt.

Ich denke, das nach zehn Wochen Amerika nun generalisieren zu können: Die Klischees sind empirisch begründet, und ich befürchte, im Laufe meines Aufenthaltes weitere identifizieren zu müssen.

- Über die Oberflächlichkeit der Gespräche lasse ich mich an dieser Stelle nicht aus, nur so viel, "Good to meet you" und "Have a nice day" sind mir inzwischen verhasst. Mein neuester Favorit: "Have a truly grat weekend."
- Der Großteil der armen Unterschicht aber auch der Mittelschicht ist schwer übergewichtig, manche Studenten sind es ebenfalls. Damit verbunden ist eine wesentlicher Mentalitätsunterschied. Hier stößt sich einfach niemand daran, jeder ist glücklich wenn er dick ist und jeder lässt die Dicken glücklich sein. Dass das ungesund ist oder dass man es ändern könnte bzw. sollte, ist kein Thema. Es ist allerdings auch ein Ausdruck gelebter Toleranz
- Das Essen ist makaber. Alles trieft vor Fett - kein Wunder, dass es gut schmeckt. Ich koche selbst, von Hausmannskost bis zu k.u.k. böhmischer Mehlspeis. Mein Apartmentkollege runzelt immer die Stirn, wenn ich Brokkoli oder Karotten dünste. Er ist zwar Vegetarier, isst aber kaum Gemüse (sollte das nicht zum Denken anregen?), sondern vielmehr Pasta, Pasta, Pasta. Zubereitet - wie praktisch - in der Mikrowelle. Salat kostet hier übrigens drei Euro pro Pfund!
- Der Fernseher ist ein essentieller Lebensbestandteil. Bspw. ist mein Apartmentkollege mit einem Riesen-TV-Set eingezogen. Hätte ich nicht rebelliert, stünde jetzt wahrscheinlich ein zweiter Fernseher in der Küche. Das Ding läuft den ganzen Tag. Durchgehend.
- Fast ebenso wichtig ist dem Amerikaner ein anderes Spielzeug: das Automobil. Ein kurzer Blick auf die Homepage von General Motors genügt. Autos, mit denen hier betuchtere Frauen zum Einkaufen fahren, haben typischerweise Außendimensionen von über fünf Metern und verbrauchen von 14 Litern aufwärts pro 100 Kilometer, wobei die ständig auf Maximalleistung laufenden Klimaanlagen noch nicht einkalkuliert sind. Mit der Abwärme dieser Geräte – sie finden sich hier überall, sogar im Aufzug – könnte man wohl die gesamte Warmwasseraufbereitung der Stadt speisen.
- Politik interessiert hier kaum einen. Auf der Law School sind die Bestätigungsverfahren für die Richter des Höchstgerichtes zwar ein großes Thema, aber der Bürger auf der Straße ist erschreckend indifferent. Das hängt wohl nicht zuletzt mit dem schlechten Bildungssystem zusammen. Vor allem die High School dürfte schwach sein. Wir Europäer und Asiaten führen das auf folgenden Punkt zurück: Die Wahl der Kurse ist ab dem zwölften Lebensjahr dem Schüler selbst überlassen. Hinzu kommt, dass man nur fünf Gegenstände belegen muss. Kein geschlossener Fächerkanon, ergo kein umfassendes Allgemeinwissen. Die meisten gehen dann noch den Weg des geringsten Widerstands und nehmen ein oder zwei Sportkurse. Doch selbst jene, die in einem Gebiet, z.B. Mathematik, Exzellenz entwickeln und sich vertiefen, verlieren den Blick auf das Drumherum. Sie legen sich Scheuklappen an, die sie im College und selbst in der Graduate School noch tragen.

Gottlob bestätigen Ausnahmen die Regel.

1 Comments:

Anonymous Anonymous said...

Erschreckend, dass Du die selben Eindrücke von Deinem Jahr mitnummst wie ich von meinem an der Duke. Nur dass in North Carolina die Bäuche - mit Verlaub - noch fetter sind.

25 October, 2005 07:49  

Post a Comment

<< Home